Donnerstag, 24. April 2014

Ein Film als Fußnote


Als Joseph Cedars Film Footnote 2011 als israelischer Beitrag nach Cannes eingeladen wurde, reagierte der bekannte israelische Schauspieler Lior Ashkenazi, der in dem Film einen Talmud-Professor spielt, überrascht: „Wenn ein israelischer Film nach Cannes eingeladen wird, so wie ‚Waltz with Bashir‘“, so Ashkenazi, „dann handelt er über den Nahostkonflikt.“ Aber in Footnote spielt der Konflikt überhaupt keine Rolle. Politik ist auf den ersten Blick seltsam abwesend in dieser Geschichte über einen Vater und einen Sohn, beide Professoren für Talmudstudien an der Hebräischen Universität in Jerusalem, die von Kritikern als „dunkel-komisches Drama ödipaler akademischer Rivalität“ (Brandeis Now), „komischer Alptraum“ (Chicago Tribune) oder „tragikomisches Märchen“ (New York Times) beschrieben wurde.

Tatsächlich ist Footnote auf den ersten Blick ein eher  ungewöhnlicher israelischer Film. Zwar steht in seinem Zentrum– in überraschend pronuancierter Weise – eine der wichtigsten jüdischen Schriften, der Talmud, aber jüdisches Leben in Israel und die damit verbundenen Konflikte, spielen anders als in anderen aktuellen Beispielen über das Thema, keine Rolle. Zwar thematisiert der Film einen Generationenkonflikt, aber die in vielen Gegenwartsfilmen verhandelte Diskussion über das Erbe des Zionismus wird dabei nicht angeschnitten.

Stattdessen thematisiert Footnote eine Leerstelle im israelischen Kino wie Regisseur Cedar in einem Interview betont: „Israelische Filme haben immer Schwierigkeiten gehabt, ihre Verbindung zum ‚größeren Israel‘ (also der religiösen Tradition) zu finden. Ich habe an einer Yeshiva (einer Religionsschule) gelernt und den Talmud aus religiöser Perspektive studiert. Keine andere Kultur hat ein so gewaltiges und detailliertes Werk geschaffen, das noch immer relevant ist. Der Text ist eine Quelle unserer Kultur. Der Film berührt daher etwas, das mit unserer Identität zu tun hat.“

Was Cedar hier anspricht berührt die verborgenen Grundlagen der israelischen Gesellschaft und des jüdischen Staates, der sich bei seiner Gründung einerseits auf eine Jahrtausende alte Geschichte berief, andererseits einen radikalen Neuanfang und Bruch mit der Vorgeschichte (der Diaspora) proklamierte. Als Brücke zwischen Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit dienten auch damals bereits Wissenschaftlern und Forschern religiöse Schriften wie der Talmud oder auch die Kabbala. Diese Wissenschaftler lasen die alten Texte aber nicht mit den Augen eines gläubigen Juden, sondern analysierten sie aus einer philologischen oder historisch-kritischen Perspektive. Für Gershom Scholem zum Beispiel, der 1923 nach Palästina ausgewandert war und seit 1925 an der neugegründeten Hebräischen Universität in Jerusalem zunächst als Bibliothekar und dann als Professor für Jüdische Mystik tätig war, boten die religiösen Quellen eine geeignete Grundlage für eine kritische Historiographie des Judentums.

An der Hebräischen Universität entstand auch gleich zu Anfang eine Abteilung für Talmudstudien, die von Yaacov Nachum Epstein geprägt und geleitet wurde. Die von ihm begründete Jerusalemer Schule sah und sieht sich aus Verantwortung für die Integrität der Texte vor die Aufgabe gestellt, die ursprüngliche Fassung der antiken Schriften so genau wie möglich zu rekonstruieren. Nicht die Auslegung oder Aktualisierung ihres Inhalts, sondern die präzise Edition des Textes ist aus ihrer Sicht die Aufgabe des Talmud-Gelehrten. Der Forscher muss Fotografien und Kopien möglichst aller existierenden Manuskripte aus den entlegensten Sammlungen und Bibliotheken zusammentragen und Wort für Wort vergleichen, um mögliche Übertragungsfehler und Entstellungen feststellen zu können.

Bereits im 19. Jahrhundert waren an deutschen Universitäten erste Formen jüdischer Studien entstanden, deren Forschungsgegenstand auch die geheiligten Texte des Judentums waren, die nun als Dokumente der Tradition und Geschichte gelesen wurden. Rekonstruiert wurde dabei der historische Hintergrund ihrer Entstehung, die im Fall des Talmuds eng mit der Zerstörung des Ersten Tempels und der Vertreibung ins Babylonische Exil zusammen hängt. An diesem Wendepunkt der jüdischen Geschichte entstanden, steht der Talmud auch für die Bewahrung von Erbe, Tradition, Gesetzen und ihrer Auslegung in der Diaspora. Neben dem im Exil editierten Babylonischen Talmud entstand in der kleinen, nach der Vertreibung aus Palästina übrig gebliebenen, jüdischen Gemeinde in Erez Israel der Jerusalemer Talmud. In seinen zwei Teilen, der „Mischna“ und dem „Gemara“, der Lektüre und dem Kommentar zur Tora und ihren Auslegungen, basiert der Talmud vor allem auf umfangreichen Diskussionen, Gesprächen und Gleichnissen von rabbinischen Schriftgelehrten.

In Footnote wird einerseits der akademische Konflikt zwischen einer streng philologischen Talmud-Forschung und ihrer narrativ-diskursiven Aneignung zum dramaturgischen Angelpunkt der Vater-Sohn-Beziehung gemacht. Während der von Lior Ashkenazi gespielte Uriel Shkolnik eine schon fast postmoderne Position zu den Texten als Ausgangspunkt widerstreitender Lesarten einnimmt, repräsentiert sein Vater Eliezer, gespielt von Shlomo Bar Aba, die puritanisch-strenge philologische Position. Der akademische Konflikt wird dabei auch mit dem Generationenkonflikt zwischen Vater und Sohn verbunden, die sich doch in wesentlichen Zügen ähneln. Zugespitzt wird dieser Konflikt durch die Nominierung für den begehrten Israel-Preis, die Vater und Sohn zu direkten Konkurrenten macht und notwendig Loyalitätskonflikte nach sich zieht.

Dieser allgemein-ödipale Konflikt zwischen Erbe und Abgrenzung erhält jedoch durch den verhandelten Gegenstand, die Talmud-Studien, auch eine partikulare Dimension. Der Film nimmt in seiner Struktur nicht nur das dialogisch-diskursive Narrationsprinzip des Talmuds auf, er verhandelt implizit auch vermittels des Talmuds als Figur des diasporisch-jüdischen Erbes den Umgang mit Tradition und Religion und widerstreitende Positionen des Bewahrens und Pflegens gegenüber einer gegenwartsorientierten Aktualisierung und Aneignung.

In verschiedenen Interviews hat Regisseur Joseph Cedar diese Spannung zwischen Universellem und Partikularem, die Religion wie Geschichte des Judentums durchzieht, explizit angesprochen. „Obwohl ich nicht sicher bin, ob eine perfekte Balance zwischen beiden überhaupt möglich ist, weil eine immer auf Kosten der anderen dominiert, tendiere ich selbst stärker in die Richtung, mit kulturell extrem spezifischem Material zu arbeiten und zu hoffen, dass andere Menschen außerhalb meines Umfeldes die menschlichen Motivationen darin wiederfinden.“

Das gilt in besonderer Weise für Footnote, der sich mit der Universität und den Talmud-Studien zwei sehr spezifischen Nischen der israelischen Gesellschaft zuwendet, dabei gleichzeitig eine selbst innerhalb Israels partikulare Sicht auf die Grundlagen des Judentums einnimmt und eben nicht letztlich doch universelle Konflikte innerhalb der streng-orthodoxen Gemeinschaft (z.B. im Umgang mit Frauen oder Homosexualität wie in anderen israelischen Filmen jüngster Zeit) thematisiert. Dennoch öffnet sich der Film schließlich einer universellen Perspektive. „Es handelt sich um einen Film über den Wunsch nach Anerkennung“, so Cedar: „Jeder hat diesen Wunsch und in diesem Film reicht der Wunsch so tief, dass er zu einer Überlebensgeschichte wird. Leben und Tod. Das ist etwas, dass jeden interessieren kann, egal wo auf der Welt.“

Auf ähnliche Weise hat der Regisseur auch in seinen früheren Filmen seine Geschichten erzählt. In Campfire porträtierte er 2004 eine alleinerziehende Mutter, die sich einer religiösen Siedlergemeinde in der West Bank anschließt. Dabei ermöglicht der Film gleichzeitig einen intimen Blick in die trotz medialer Omnipräsenz weitgehend unbekannte Welt der israelischen Siedler und schafft trotzdem kritische Distanz. Noch deutlicher wird 2007 ein spezifisch israelischer Mikrokosmos in Beaufort zum Spielraum allgemein menschlicher Konflikte. Auf engem Raum inszeniert Cedar in diesem Film die letzten Tage einer Militäreinheit in einer Basis im südlichen Libanon kurz vor dem einseitigen israelischen Abzug im Jahr 2000. Der Film beobachtet und entwickelt ethische Dilemmata und spiegelt darin die Spezifik des jahrzehntelangen Libanonkonflikts genauso wie die Dynamik einer auf engem Raum zusammengepferchten Gruppe.

Rivalität und Konkurrenz prägten bereits die Konfliktlinien dieser beiden Filme. Aber im Vergleich zu Campfire und Beaufort ändert sich in Footnote die Tonart. Obwohl Cedar an dem Film auch die Qualitäten einer Tragödie hervorhebt, bedient Footnote doch letztlich das Genre der Komödie. Daneben fällt aber insbesondere auf, wie vielschichtig Cedar die Erzählform seines Films im Vergleich zu den beiden weitgehend linear erzählten Vorgängern anlegt. In gewisser Weise adaptiert der Film dabei selbst die Form eines vielfach überlagerten und beschriebenen Textes. Der Talmud mit seinen zahlreichen Ergänzungen und Randnotizen steht somit Pate für eine filmische Form, die sich immer wieder in Exkursen und Abschweifungen verliert. Darüber hinaus spielt Cedar nicht nur mit der Zeit, die mitunter in phantastischen Szenen und Sequenzen vollständig auszusetzen scheint, sondern auch mit dem Wechselspiel zwischen Bild und Text. Immer wieder füllt Schrift das Bild auf und stellt der visuellen Narration eine schriftbildliche zur Seite. Die Figur der Fußnote, die eine zusätzliche aber letztlich vielleicht periphere Erklärung gibt, wird dabei wiederholt aufgerufen und rückt so ins Zentrum. „Die Fußnote ist ein Paradox“, schreibt Paul Morrison in einer Besprechung des Films. „Ihre Aufgabe ist es, eine stabile, hierarchische Trennung zwischen dem herzustellen, was zentral und dem, was marginal in einem Text ist. Doch in der Praxis tendiert sie zum Gegenteil. In den Talmudstudien führt die schiere Überfülle von Fußnoten dazu, leicht den ‚Primärtext’ zu überwältigen. Das Marginale wird zum Zentrum. Und wie Cedar klar erkannt hat, ist das, was an den Rand verschoben wurde, meist von größtem Interesse.“

So stellt Footnote ein filmisches Äquivalent zur Figur der Fußnote dar. Das macht schon die Eröffnungsszene deutlich. Wir wohnen einer feierlichen Zeremonie bei. Unser Blick ist aber von der Bühne weg auf das Publikum gerichtet. Vater und Sohn sitzen nah beieinander und doch macht ihre Haltung deutlich, wie viel zwischen ihnen steht. Uriel wird zu einer Dankesansprache auf die Bühne gerufen. Gegenstand seiner Rede ist sein Vater. Wieder verwehrt uns der Film den erwarteten Blick auf die Bühne. Die Kamera bleibt beim Vater. Sein Gesicht ist der Kommentar, der die Worte des Sohnes erst vervollständigt. Der Film ist auf diese Weise ein Blick an die Ränder, er behandelt eine scheinbare Nebensache, eine kleine Notiz. Doch dahinter verbirgt sich eine vielschichtige, ebenso emotionale wie bedeutungsvolle Schicht. Dies wird insbesondere in der Schlusssequenz wieder aufgegriffen, die fast wie ein surrealistischer Reigen funktioniert und so als Konsequenz aus den Überlagerungen eine Zwischenwelt kreiert, in der Realität und Projektion vollständig verschwimmen. Cedar hat erklärt, dieser Schluss funktioniere ähnlich einer Tanzsequenz, mehr choreographiert als inszeniert: „Das Ergebnis ist ein subjektiver Blickpunkt von einem Ereignis, das von Außen festlich und harmlos erscheint, aber von der Perspektive der Figur, von seiner inneren Welt aus gesehen, nicht weniger als apokalyptisch wirkt.“ So ist der Film letztlich doch auch ein verschlüsselter Kommentar zur israelischen Realität und fügt sich so in die Tendenz des gegenwärtigen israelischen Kinos ein als Seismograph einer vielschichtigen und vielstimmigen Gesellschaft zu fungieren.

Footnote wurde als bester israelischer Film mit einem Ophir Award ausgezeichnet. Dies ermöglichte es dem Film, auch ins Rennen um die Oscars für den besten fremdsprachigen Film zu gehen. Trotz Nominierung ging Cedars Film, genauso wie einige Jahre zuvor auch Beaufort, in Hollywood leer aus. Allerdings gewann Footnote auch die Ophir Awards für das beste Drehbuch, den besten Hauptdarsteller, den besten Nebendarsteller und weitere fünf Auszeichnungen, sowie den Preis für das beste Drehbuch beim Filmfestival in Cannes.

So ist Footnote letztlich vielleicht doch mehr als eine Fußnote in der israelischen Filmgeschichte geworden. Er greift dabei die das israelische Gegenwartskino prägenden Spannungen zwischen den Generationen und um das politische und kulturelle Erbe auf. Aber anders als andere erfolgreiche Filme der letzten Jahre wie An ihrer Stelle (über ultraorthodoxe Juden) oder Bethlehem (über Israelis und Palästinenser) fördert gerade der Blick in einen scheinbar marginalen Bereich des Lebens eine Geschichte zutage, die sich klaren Ein- und Zuordnungen widersetzt. Durchzogen von Ambivalenzen ist Footnote ein Film, der um Brüche, Verwerfungen und Sackgassen herum aufgebaut ist und dennoch seinen heiteren Ton und das Interesse an seinen Figuren nie verliert

(Der Text wurdeam 23. April 2014 als Einführung auf einer Veranstaltung des Jüdischen Filmclubs im Metropolis-Kino Hamburg gehalten.)

Mittwoch, 13. Februar 2013

YOUTH, oder das junge israelische Kino

Die Fachwelt ist sich überwiegend darüber einig, dass das junge israelische Kino derzeit eines der interessantesten und erfolgreichsten ist. Jedes Jahr im Sommer, werden im Ramen des traditionsreichen Jerusalemer Filmfestivals neue israelische Produktionen der Öffentlichkeit vorgestellt und beginnen ihre Reise durch die Kinosäle internationaler Festivals. In den letzten Monaten sind so viele israelische Spielfilme wie selten zuvor regulär in deutschen Kinos gestartet. Nach Festivalerfolgen in Jerusalem und Locarno war im Herbst Nadav Lapids HASHOTER/POLICEMAN zu sehen, ein anspruchsvolles Drama mit Genreelementen, das die gegenwärtigen sozialen Spannungen in der israelischen Gesellschaft zum Ausdruck brachte noch bevor die weltweit beachteten Sozialproteste auf den Straßen israelischer Städte begannen. Der Film war auch auf dem Jüdischen Filmfestival Saarbrücken zu sehen und ist Teil des Programms des kommenden Paul Spiegel Filmfestivals in Düsseldorf.
Weniger beachtet aber ebenfalls in deutschen Kinos vorgeführt worden ist Eran Kolirins HA-HITCHALFUT (THE EXCHANGE), ein kinematographisch spannendes Spielfilmexperiment über einen jungen Angestellten der Tel Aviver Universität und sein individuelles Ausbrechen aus seinem Alltag. Kolirin hatte vor einigen Jahren mit dem Film THE BANDS VISIT zahlreiche Auszeichnungen und Nominierungen auf internationalen Festivals erhalten. Zuletzt war in deutschen Kinos der Spielfilm YOSSI von Eytan Fox zu sehen, die Fortsetzung seines erfolgreichen Films über die Liebesbeziehung zweier im Libanon stationierter Soldaten. Fox erzählt in seinen Filmen immer wieder ebenso anrührende wie spannende schwule Liebesgeschichten vor dem Hintergrund der vielschichtigen Realität in Israel und der Region.
Neben Jerusalem ist das Internationale Filmfestival in Haifa sicherlich der wichtigste Abspielort für junge israelische Filmemacher. Im vergangenen Jahr war dort beispielsweise der bewegende Film IGOR AND THE CRANES JOURNEY von Yvgeni Roman zu sehen, dessen Coming-of-Age-Geschichte vor dem Hintergrund des jährlichen Fluges der Zugvögel erzählt wird, die regelmäßig im Huly Valey im Norden Israels Station machen. Der Film wird in Deutschland im Rahmen des Jüdischen Filmfestivals in Düsseldorf zu sehen sein. Ausgezeichnet wurde in Haifa unter anderem das beeindruckende Drama ALTA (OUT IN THE DARK) von Michael Mayer. Mayer erzählt in seinem mit hervorragenden Schauspielern besetzten Film über die Liebesbeziehung eines Palästinensers aus der Westbank und eines Israelis vor dem Hintergrund politischer Spannungen und lebensbedrohlicher Homophobie in den besetzten Gebieten. Ebenfalls ausgezeichnet wurde der in Israel überaus erfolgreiche Film FILL THE VOID von Rama Burstein, der bereits auf dem Filmfestival in Venedig begeistert aufgenommen wurde. Der Film erzählt von einer jungen Frau aus ultraorthodoxem Elternhaus, die den Ehemann ihrer verstorbenen Schwester heiraten soll. Burstein, die selbst religiös lebt und an einer renomierten Filmschule in Israel ausgebildet wurde, gelang damit ein ebenso differenzierter wie intimer Einblick in das ultraorthodoxe Leben in Israel.
Diese aktuellen Beispiele verdeutlichen die thematische Vielfalt des israelischen Kinos, das zwar seine Kraft zu komplexen und vieldeutigen Erzählungen aus der spannunsreichen geographischen, politischen und sozialen Lage des kleinen Landes zieht, sich aber nicht auf Themen wie den Nahostkonflikt reduzieren läßt. Das zeigte auch der im vergangenen Jahr für die Oscars nominierte Film FOOTNOTE von Joseph Cedar. Cedar, der in früheren Filmen bereits das Leben nationalreligiöser Siedler und israelischer Soldaten im Südlibanon thematisiert hatte, wendet sich in diesem ästhetisch wie narrativ ausgefallenden Film dem Generationenkonflikt in einer israelichen Akademikerfamilie zu und erzählt damit abseits von politischen Modethemen eine spannende Parabel der israelischen Gesellschaft. Leider ist der Film noch nicht in deutschen Kinos gestartet und es ist ausschließlich dem Jüdischen Filmfestival Berlin, dem ältesten und größten Festival dieser Art in Deutschland, zu verdanken, dass Cedars Film dennoch im vergangenen Jahr die deutsche Öffentlichkeit erreichen konnte.
Das Jüdische Filmfestival Berlin ist mittlerweile zum wichtigsten Ort für das israelische Kino in Deutschland geworden, auch weil israelische Filme auf den internationalen Filmfestspielen in Berlin kaum noch Platz zu finden scheinen. Cedars BEAUFORT war vor wenigen Jahren noch im Wettbewerb gezeigt worden. Eitan Fox war seit YOSSI & JAGER regelmäßiger Gast der Berlinale. Das Prequel YOSSI läuft nun parallel zu den Festspielen in Berliner Kinos. OUT IN THE DARK wäre eigentlich prädestiniert für die Panoramasektion gewesen, aber dort wie auf der gesamten Berlinale wird Israel fast ausschließlich als Ort des Nahostkonflikts präsentiert. Einzige Ausnahme ist Tom Shovals YOUTH, der von zwei Brüdern erzählt, deren Familie vor dem sozialen Abstieg steht und die darum ein junges Mädchen entführen, um von deren Eltern Lösegeld zu erpressen. Shoval siedelt seine durchaus universell angelegte Geschichte bewusst im Spannungsfeld der israelischen Realität an. Einer der Brüder hat gerade mit seinem Militärdienst begonnen und kehrt für die Entführungsaktion nach Hause zurück. Seine Waffe, ein alltäglicher Gegenstand in dem zur ständigen Verteidigung seiner Existenz gezwungenen Land, dient zur Ausführung der Entführung. Shoval verbindet in seinem Film auf diese Weise die kritische Reflektion israelischer Normalität mit der Anklage sich immer stärker zuspitzender sozialer Konflikte innerhalb der israelischen Gesellschaft. Wie fast alle Vertreter des jungen israelischen Kinos enthält er sich dabei allerdings plakativer Inszenierungen und filmisch verkleideter politischer Parolen. Der Film verfährt über weite Strecken eher beobachtend und sezierend, begleitet die Protagonisten und deren Familie und inszeniert die besondere Nähe zwischen den Brüdern genauso intensiv wie das Auseinanderdriften der Familie. Zusätzlich legt Shoval noch eine filmische Meta-Ebene über die Geschichte. Seine Protagonisten sind Filmfreaks, die sich in die Welten von Hollywood-Gangstern und Helden wie Rambo flüchten. Diese stehen Modell für die (schließlich unerwartet verlaufende) Entführung. Shoval nutzt diese Ebene, um dem Film immer wieder einen anderen Ton zu geben. Neben Beobachtung und sozialen Realismus treten auf diese Weise Genreverweise und ausgestellte Inszenierungen. So wird auch der Parabelcharakter des Films betont (schließlich kam es bisher so gut wie nie zu mit militärischen Waffen ausgeführten Verbrechen oder Gewalthandlungen in Israel), sowie die besondere Bedeutung des Kinos für die israelische Jugend.
Israelische Filme spiegeln auf wesentlich komplexere Weise als Medienberichterstattung und Nachrichten die vielschichtige Realität des Landes und seiner Bewohner wieder. Bereits vor zehn Jahren hatte der Regisseur Nir Bergman angesichts der Premiere seines Films BROKEN WINGS auf der Berlinale kritisiert, dass die internationale Filmwelt das israelische Kino meist nur durch die Brille des Nahostkonflikts wahrnehme. Junge Regisseure seien auch durch die Interessen ausländischer Filmförderungen oft gezwungen, die politische Situation des Landes zum Angelpunkt ihrer Filmerzählungen zu machen. Dabei wünsche sich die israelische Jugend nichts anderes als ihre Alltagsgeschichten erzählen zu können, Ausdruck einer Sehnsucht nach Frieden und Normalität. Zahlreiche deutsch-israelische Koproduktionen wie THE EXCHANGE aber auch YOUTH zeigen, dass sich in der Förderpraxis seitdem offensichtlich etwas geändert hat. Die Programmauswahl auf der diesjährigen Berlinale aber, die Israel wieder fast ausschließich als Ort kriegerischer Konflikte zeigt, fällt dahinter zurück.

Montag, 11. Februar 2013

"Why not?" - STATE 194, oder: wenn Salam Fayyad Präsident von Palästina wäre

Es gibt Dokumentarfilme und Dokumentarfilme. Die einen glauben, die Wirklichkeit abzubilden wie sie ist und vergessen dabei gerne, dass sie diese Wirklichkeit doch erst selbst herstellen. Die anderen möchten gerne in den Lauf der Dinge eingreifen und übersehen dabei die Koordinaten der Wirklichkeit. STATE 194 vom israelischen Filmemacher Dan Setton, der im Panorama auf der Berlinale zu sehen ist, gehört eher in die zweite Kategorie. Sein Anliegen ist es, die bleibende Notwendigkeit und auch die Möglichkeit eines palästinensischen Staates zu unterstreichen bzw. - angesichts der momentanen Situation vielleicht realistischer ausgedrückt - die Zwei-Staaten-Lösung vor dem politischen Tod zu retten. Der Protagonist seines Films ist einer der vielleicht interessantesten und gleichzeitig weltweit unbekanntesten Politiker der Region, der palästinensische Ministerpräsident Salam Fayyad, der seit 2009 darum bemüht ist, zu demonstrieren, dass sich die Palästinenser in einem wirtschaftlich prosperierenden Staat an der Seite Israels selbst regieren können. Ausgangspunkt des Films ist der erste palästinensische Versuch, von der UNO als Quasi-Staat akzeptiert zu werden. In einem Rückblick zeigt Setton dann Bemühungen auf beiden Seiten und dasinteressantesten und gleichzeitig weltweit unbekanntesten Politiker der Region, der palästinensische Ministerpräsident Salam Fayyad, der seit 2009 darum bemüht ist, zu demonstrieren, dass sich die Palästinenser in einem wirtschaftlich prosperierenden Staat an der Seite Israels selbst regieren können. Ausgangspunkt des Films ist der erste palästinensische Versuch, von der UNO als Quasi-Staat akzeptiert zu werden. In einem Rückblick zeigt Setton dann Bemühungen auf beiden Seiten und das unermüdliche Statebuilding von Fayyad. Dieser hatte dem Israeli unbeschränkten Zugang zu seiner Arbeit ermöglicht, was in dem Umfeld des Ministerpräsidenten nicht nur auf Gegenliebe stieß. Doch auf die Frage, warum er einen Israeli so nah an sich heranlasse, habe Fayyad nur trocken "Why not!" geantwortet, berichtet Setton.
"Why not" könnte auch das Motto von STATE 194 sein. Er habe einen Film mit einer hoffnungsvollen Botschaft machen wollen, erklärt Setton, und räumt gleich ein, dass es wesentlich einfacher sei, pessimistische Filme über den Nahostkonflikt zu drehen. Mit allerlei technischen Finessen ausgestattet, bewegt sich Settons Kamera im Zentrum der Macht, schwenkt zum Himmel und fährt prestigeträchtige Bauprojekte ab. Nicht zufällig wirkt dies wie eine fernsehgerechte Neuauflage der, ästhetisch durchaus beeindruckenden, frühen Filme über den zionistischen Aufbau in Palästina. Denn für Setton und STATE 194 ist Fayyad soetwas wie der palästinensische Wiedergänger Ben Gurions, der einen Staat und seine Institutionen schafft, noch bevor die Welt dessen Gründung anerkannt hat.
Das Problem ist nur, dass Fayyads Einfluss in der palästinensischen Autonomiebehörde auf ziemlich wackeligem Posten steht. Nur eine Minderheit der in der Westbank lebenden Palästinenser unterstützt seine Politik. Und wenn man sich die Strategie von Palästinenserpräsident Abbas anschaut, der das Vorgehen seines Ministerpräsidenten gerne zu durchkreuzen scheint (beispielsweise indem er die revisionistischen Thesen seiner Doktorarbeit aufwärmt, die "Zionisten" hätten mit den Nazis bei der Durchführung der Shoah zusammengearbeitet), ist fraglich, inwieweit der westlich sozialisierte Ökonom und Politstratege nur als Pappfigur für eine korrupte Autonomiebehörde fungiert, der wenig an Verhandlungen und einer ernsthaften Friedenslösung gelegen ist. Interessanterweise spart Setton Abbas, abgesehen von einigen Einstellungen seiner UNO-Rede, fast vollständig aus dem Film aus.
Allerdings erzählt er auch wenig über Fayyads unsichere Position. Nur in Bezug auf die Annäherung zwischen den beiden rivalisierenden Palästinensergruppen Fatah und Hamas wird angemerkt, dass Fayyad wohl das erste Opfer einer Wiedervereinigung wäre. Die Hamas hat schon deutlich gemacht, dass sie Fayyad auf keinem Posten akzeptieren würde.
Auch im Hinblick auf die Israelis verschiebt der Film die Realitäten. Offensichtlich intendiert für ein amerikanisches und europäisches Publikum bekommen israelische Friedensaktivisten (von einer Bewegung kann man kaum sprechen) weit mehr Raum, als ihrem gesellschaftlichen Einfluss entspricht. So spannend es ist, kaum bekannte Initiativen wie den Parents-Circle kennen zu lernen, in dem sich Israelis und Palästinenser zusammengefunden haben, die Angehörige im Konflikt verloren haben, so zäh wirken doch die Passagen, in denen die Komplexität des Konflikts doch wieder hinter Friedensparolen und Aktivismus verschwindet. Das ist aber auch dem Konzept des Films gechuldet, Bewegung und Entwicklung dort zu zeigen, wo in den letzten Jahren nur Stillstand vorzufinden war.
Kein Wunder, dass nahezu alle wesentlichen Faktoren, die zu diesem Stillstand führten, ausgespart werden. Weder die Machtübernahme der Muslimbrüder in Ägypten, noch die fortgesetzten Drohungen des Iran, weder die Blockade der Autonomiebehörde noch der Vernichtungswille der Hamas werden in größerem Rahmen diskutiert. Lediglich der Antisemitismus der Hamas wird kurz thematisiert, allerdings auch nur, um dann zum scheinbar eigentlichen Hauptproblem auf dem erwünschten Weg zum Frieden überzugehen, dem Siedlungsbau. Hinter dem sehr eindrucksvollen Porträt der Aktivitäten Fayyads reproduziert also auch STATE 194 die üblichen medial-verbreiteten Stereotypen über den Konflikt.
Aber auch einer komplexeren Sicht auf Fayyad und die Autonomiebehörde selbst versperrt sich der Film. Kein kritisches Wort ist über die fortdauernde Repression in der Westbank zu hören. So lobenswert die Terrorbekämpfung durch neu ausgebildete palästinensische Polizeieinheiten, die der Film in voller Breite darstellt, sein mag, so wenig kann man doch, wie Fayyad in den Schlusseinstellungen des Films, von einem Rechstaat, Demokratie und funktionierender Zivilgesellschaft sprechen. Angesichts von Verhaftungen ohne Gerichtsverfahren und der Verhängung von Todesstrafen, wirken Fayyads Worte wie ein billiger Propagandaeffekt. Für die palästinensische Zivilgesellschaft wiederum lässt der Film junge Blogger einstehen, die ein Bild von westlich-orientiertem Aktivismus jenseits der Strukturen staatlicher Verwaltung entstehen lassen. Dass aber die junge Bloggerin aus der Westbank offensichtlich in engem Kontakt mit der Autononmiebehörde agieren, zeigen einige der Schlusseinstellungen des Films. Man fragt sich, wie es Bloggern in der Westbank ergeht, die nicht der Linie von Abbas und der Fatah entsprechen.
So konstruiert sich der Film ein hoffnungsfroheres Bild von der Situation durch die Auswahl und Anordnung seines Materials und dessen stilbewusster Präsentation. Daran hat der Regisseur auch keinen Zweifel gelassen. Er wollte einen positiven Film drehen - der parallel im israelischen und palästinensischen Fernsehen gezeigt werden soll. Why not?

Samstag, 9. Februar 2013

Zweierlei Kriege - Der Nahostkonflikt auf der Berlinale

Als The Clash 1982 den Song "Rock the Casbah" veröffentlichten, wurde dieser auch als Kommentar auf die Machtergreifung durch die islamische Revolution 1979 im Iran Interpretiert. Deren politischer und religiöser Führer Ayatholla Khomenei hatte nicht nur dem alten Regime, sondern auch der Freiheit der Kunst und insbesondere der Rockmusik und dem Kino den Krieg erklärt.
Yariv Horowitz' gleichnahmiger Spielfilm, der in der Sektion Panorama der Berlinale zu sehen ist, übernimmt zwar von The Clash den provokanten Titel, ist aber an einem ganz anderen neuralgischen Zeitpunkt der jüngeren Geschichte des Mittleren Ostens angesiedelt. Er spielt zehn Jahre nach der iranischen Revolution, im Jahr 1989, in Gaza, Jahre bevor jene mit dem Hamas-Regime einen willfährigen Gehilfen in der Küstenregion installieren konnte. Den zeitgeschichtlichen Hintergrund bildet die erste Intifada, die Protagonisten sind junge Rekruten der israelischen Armee, die sofort nach ihrer Ankunft in einen ebenso ungleichen wie emotional und moralisch zermürbenden Straßenkrieg mit palästinensischen Jugendlichen geworfen werden.
Nachdem ein Mitglied der Einheit bei einer Razzia von einer herabstürzenden Waschmaschine erschlagen wird und die Täter flüchten können, sollen die vier verbleibenden Soldaten den Tatort, das Dach einer palästinensischen Familie, sichern und weitere Angriffe von Häuserdächern verhindern. Durch die Augen von Tomer (Yon Tomarkin, selbst erst 1989 geboren) werden die Zuschauer Zeugen der verfahrenen Situation. Horowitz orientiert sich weitgehend an den Konventionen des Antikriegsfilms, zeigt Spannungen und Verwerfungen innerhalb der Gruppe und gegenüber ihrer Außenwelt. Tomers Versuche, aus dem sinnlosen Treiben auszubrechen, bleiben erfolglos. Als die Soldaten den Ort verlassen, kommen bereits neue Rekruten und auch ihnen werden die 'Regeln' eines Krieges erklärt, in dem sich junge Israelis und Palästinenser gegenüberstehen.
Reflexhaft wurde ROCK THE CASBAH bereits als "Propagandafilm einer Besatzungsarmee" deklariert, nur weil sich der Film üblichen Gut-Böse-Schemata entzieht und mehr für die Ambivalenz des Krieges interessiert. Zwar hat man dadurch mitunter das Gefühl, einen Vietnamkriegsfilm vor der Kulisse von Gaza zu sehen, doch die Dramaturgie zeigt doch bei aller der Genreform geschuldeten Vorhersehbarkeit, in gelungener Weise sich in der Enge Gazas veräußernde innere Konflikte der handelnden Figuren. Unbenommen ist der Film trotz seiner historischen Verortung auch als Kommentar zur Gegenwart des israelisch-palästinensischen Konflikts gemeint. Dennoch sollte man nicht zu vorschnell über den historischen Index des Films hinweggehen. Die Intifada und insbesondere die Situation in Gaza Ende der achziger Jahre waren ein zentraler Auslöser für die wachsende Forderung nach einem Friedensschluss mit den Palästinensern und dem Ende der Besatzung innerhalb der israelischen Bevölkerung.
Es ist kein Zufall, dass sich Horowitz gerade diesem Zeitpunkt und diesem Ort zuwendet, denn beides wirkt über den Rückzug aus Gaza im Jahr 2005 und die Machtübernahme durch die Hamas mit den darauf folgenden Terroraktionen und Raketenbschüssen bis heute fort. Gaza ist, das verdeutlicht der Film, nachgerade eine Art 'Urtrauma' der Besatzung. Im Israelischen Kino war dieses 'Urtrauma' zunächst mit dem Yom Kippur Krieg verbunden gewesen. Amos Gitai hat dies in KIPPUR bebildert. Abgelöst wurde es von der Erinnerung an den Libanon, erst in Haim Bouzaglos TIME OF CHERRIES, dann in Joseph Cedars BEAUFORT und zuletzt in Ari Folmans WALTZ WITH BASHIR. ROCK THE CASBAH knüpft an diese Vorgänger an und beleiht darüber hinaus visuell und narrativ auch zahlreiche amerikanische Vorbilder. Dabei versucht er einerseits die Perspektive der israelischen Soldaten nachzustellen und andererseits, den Palästinensern, in Gestalt der Familie deren Dach die Armee buchstäblich besetzt hält, ein Gesicht zu geben.

Ein weiterer Spielfilm über den israelisch-palästinensischen Konflikt nimmt dazu die diametral entgegengesetzte Perspektive ein. Im Forum der Berlinale ist der Film LAMMA SHOFTAK der palästinensischen Regisseurin Annemarie Jacir zu sehen, der von dem Jungen Tarek erzählt, der nach dem Sechstagekrieg mit seiner Mutter in einem Flüchtlingslager in Jordanien strandet. Dort bleibt er ein Außenseiter und sehnt sich zurück nach seinem Elternhau und seinem Vater. Bei seinem Versuch, in die nun von Israel besetzten Gebiete zurückzukehren, trifft Tarek auf eine Gruppe palästinensischer Kämpfer, die in einem provisorischen Ausbildungslager für den von Arafat und der PLO propagierten "Freiheitskampf" trainieren. Regisseurin Jacir, die mit LAMMA SHOFTAK in gewisser Weise ein palästinensisches Nationalkino begründet, schwelgt in ihrem Historienfilm in einer nostalgischen Revolutionsromantik. Das Ausbildungslager erscheint als Ort der Gleichberechtigung der Geschlechter. Statt militärischer Hierarchie bindet die gemeinsame Sehnsucht die Kämpferinnen und Kämpfer aneinander. Jeder und jede wird so aufgenommen und gebraucht wie er oder sie ist. Und jeder und jede kann sich nach den eigenen Fähigkeiten einbringen und entwickeln. Ohne Frage beeindruckt der Film durch tolle schauspielerische Leistungen, insbesondere des jungen Mahmoud Asfa. Auch berührt der Film teilweise oft übersehene historische Ambivalenzen wie die herablassende und oft auch feindseelige Haltung der jordanischen Bevölkerung gegenüber den palästinensischen Flüchtlingen. Aber auf sehr einfache Weise konstruiert Jacir mit dem palästinensischen Ausbildungslager eine Idealgesellschaft, die unschwer als verklärte Vorwegnahme der palästinensischen Nation zu erkennen ist. Kritische Distanz gegenüber Krieg und Militär kann man in LAMMA SHOFTAK nicht erkennen. Im Gegenteil wird selbst noch die Rekrutierung von Kindern, die von der PLO tatsächlich in großem Umfang betrieben wurde, verklärt. In einer Szene geht der ausgelassene abendliche Tanz ohne jede kritische Tendenz in marschierende Stiefel und Drill über. Während es heute in jedem reflektierteren Kriegsfilm zum Standardrepertoire gehört, auch die Gegenseite zu zeigen, hält LAMMA SHOFTAK an der guten alten Kriegsverklärung im Kino fest: die Israelis erscheinen nur als gesichtslose akkustische Bedrohung oder in Gestalt eines Jeeps hinter einem Stacheldrahtzaun. Besonders explizit dem nationalen Narrativ zugetan ist aber das symbolische Ende des Films. In einer Szene fragt Tarek seine Mutter vorwurfsvoll, ob sie ihre Haare noch die nächsten zwanzig Jahre streng nach Hinten gekämmt tragen wolle. Zuvor hatte man den Jungen gesehen, wie er der schlafenden Mutter das lockige schwarze Haar ausbreitet. Die Zahl bezieht sich offensichtlich auf die Aussage einer älteren Frau am Anfang des Films, sie sei bereits seit zwanzig Jahren im Flüchtlingslager. In den Schlussszenen des Films, als Mutter und Sohn das "gelobte Land" hinter dem Stacheldraht erblicken und zur Rückkehr entschließen, löst sich dann das Haar der Mutter. Darauf wohl scheint sich auch der Titel "When I saw You" (wobei mit "You" Palästina gemeint ist) zu beziehen.
Wäre LAMMA SHOFTAK ein israelischer oder amerikanischer Film hätte man ihm sicherlich Kriegsverherrlichung und Propaganda vorgeworfen. In der Begründung des vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung vergebenen Filmpreises Cinema fairbindet heißt es hingegen, der Film erzähle "von den Fähigkeiten eines Kindes, Erwachsene daran zu hindern, sich mit etwas abzu­finden, wenn es doch Hoff­nung auf Verän­derungen gibt." Dass die Hoffnung, die Tarek antreibt und die das hochgradig symbolische Ende des Films als Schlussbild einfriert nichts anderes als das mantraartig wiederholte "Rückkehrrecht" der Palästinenser ist, das einer Aussöhnung zwischen Israelis und Palästinensern bis heute entgegensteht, scheint den Preisgeber scheinbar nicht zu stören.

So zeigen ROCK THE CASBAH und LAMMA SHOFTAK als historische Kriegsfilme zweierlei Kriege und auch zweierlich Wahrnehmungen des israelisch-palästinensischen Krieges. Diese Wahrnehmung divergiert nicht nur in der jeweiligen Perspektive, sondern auch in der Haltung, die die beiden Filme zum Genre des Kriegsfilms und zum Krieg im Allgemeinen einnehmen. Während ROCK THE CASBAH die Ambivalenz und das Trauma der Besatzung als israelische Erfahrung auszudrücken versucht, wählt LAMMA SHOFTAK die nostalgische Verklärung des palästinensischen Freiheitskampfes. In einem interessanten Punkt aber treffen sich beide Filme. Nimmt man sie weniger als Rekonstruktionen einer Vergangenheit als vielmehr als Wunschprojektionen aus einer bestimmten Gegenwart heraus ernst, dann verdeutlichen beide Filme vor allem den Wunsch nach einer Rückkehr zu einem status quo ante, Gaza vor der Machtübernahme der Hamas und einen palästinensischen Befreiungskampf, dessen Gegenstand weniger der religiöse Fanatismus als der Ruf nach nationalem Selbstbestimmungsrecht im befreiungsnationalen Gewand war.

Versammeltes Filmerbe - Zur 50sten Ausgabe der Zeitschrift FILMBLATT

Es gibt nur wenige deutschsprachige Publikationen, die sich exklusiv der Filmgeschichte widmen. Die Zeitschrift FILMBLATTgehört, wenn auch noch immer wenig bekannt, ohne Frage zu den wichtigsten Veröffentlichungen ihrer Art. Ihr primärer Gegenstand ist das unbekannte, deutsche Filmerbe. "Deutsch" ist dabei im weitesten Sinne der Bedeutung zu verstehen. Vorgestellt und erschlossen wurden und werden Filme aus dem Kaiserreich, der Weimarer Republik, dem Dritten Reich, der Bundesrepublik, der DDR, Österreich, der Schweiz, deutschsprachige Filme aus den Niederlanden, Filmarbeiten deutschsprachiger Emigranten etc. Herausgegeben wird die Zeitschrift von CineGraph Babelsberg, dem Berlin-Brandenburgischem Centrum für Filmforschung. Filmforschung ist das umfassende Anliegen von Verein und Zeitschrift. Sie umfasst die Erschließung, Sicherung und Vorführung vergessener oder lange unbeachtet gebliebener Filmwerke aller Genres und Gattungen sowie ihre filmhistorische Einordnung und Analyse. Praktisch geschieht dies im Kinosaal, im Rahmen der Filmreihe Wiederentdeckt im Zeughauskino und der Reihe FilmDokument im Kino Arsenal. Auf- und nachbereitet werden die Sichtungen dann in den Aufsätzen, die regelmäßig im FILMBLATT publiziert werden.
Soeben ist die 50ste Ausgabe der Zeitschrift erschienen. In bewährter Weise werden darin bisher kaum beachtete und wenig erforschte Filme und Akteure der deutschen Filmgeschichte vorgestellt. So beispielsweise die Drehbuchautorin und Regisseurin Rosa Porten, deren ungleich bekannterer Schwester Henny Porten CineGraph Babelsberg die letzte Ausgabe der Publikationsreihe Filmblatt-Schriften widmete, oder der historische Sittenfilm PEST IN FLORENZ (1919). In der filmhistorischen Forschung bereits bekanntere Filmemacher werden unter neuen Perspektiven untersucht. So zum Beispiel der NS-Wochenschau-Filmberichterstatter Walter Frentz mit seinen bisher unbekannten frühen Amateur-Sportfilmen von 1931/32 und späteren Arbeiten zwischen 1936 und 1966.
Vor allem aber rahmen zwei programmatische Beiträge das Jubiläumsheft, die auf bemerkenswerte Weise zentrale Fragen der historischen Filmforschung im digitalen Zeitalter aufgreifen und deutlich machen, wie wenig Filmforschung, Filmbewahrung und Filmvermittlung Angelegenheit weltabgewandter Archivare sind und wie sehr die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Films die Gegenwart und Zukunft des Kinos erhellen und bereichern kann. In seinem Essay "Wider die Selbstgenügsamkeit" greift Klaus Kreimeier das ambivalente Verhältnis von Filmgeschichtsschreibung und Digitalisierung auf und wendet es auf unkonventionelle Weise in verschiedene Richtungen. Dabei kommt er zu dem überzeugenden Fazit, die Erforschung der Filmgeschichte könne produktiv "zum Verständnis unserer medialisierten Lebenswelt" beitragen. Aus dieser unzweifelhaften Aktualität der Filmforschung aber zieht er auch die Konsequenz, dass sich filmhistorische Forschung nicht nur als "Hüterin eines Erbes, das es dem Vergessen zu entreißen" gelte, verstehen, sondern "durchaus an der Diagnose der Gegenwart beteiligen" solle.
Michael Wedel knüpft in seinem Beitrag "Zeigen, Versammeln, Bewahren" an ähnliche Fragen an. Eingebettet in eine übergreifende "Ökonomie des Verschwindens" skizziert er eine "Ästhetik des Bewahrens", die er am Gegenstand von Filmmuseen, Kinos (wie dem Zeughauskino, zu dessen 20jährigen Bestehen der Text als Festvortrag gehalten wurde) und Filmforschung verdeutlicht. "Zeigen, Versammeln, Bewahren" - diese Trias konstituiert nach Wedel das Museum wie das Kino, deren Ziel die Vorführung von Objekten der Vergangenheit, die Versammlung eines Publikums und das Bewahren der Geschichte ist: "Wenn dem Kino - aus der vornehmen Perspektive des Museums betrachtet - lediglich der Rang eines Seiteneinstiegs in die Geschichte zukommen mag, sind doch beide, Kino und Museum, in ihrer ästhetischen Praxis eng miteinander verbunden. Darin nämlich, dass sie das Gesammelte und Bewahrte nicht nur irgenwie herzeigen, sondern darauf aus sind, ein Publikum zur Anschauung und Reflexion des Gezeigten an einem Ort zu versammeln, um auf diese Weise über den jeweiligen Gegenstand als solchen hinaus einen Eindruck der historischen Wirklichkeit hinter dem Gezeigten im öffentlichen Bewusstsein zu bewahren."
Diese Beschreibung trifft zweifelsohne auch auf die Arbeit von CineGraph Babelsberg und die Zeitschrift FILMBLATT zu. Die enge Verbindung zwischen dem Kinosaal als Ort praktischer Filmforschung und der Zeitschrift als Medium filmhistorischer Reflexion und Einordnung stellt auf besonderer Weise die Möglichkeiten angewandter Filmforschung und ihre Relevanz heraus - vorausgesetzt, die Geschichte des Kinos wird dabei auch in ein spannungsreiches Verhältnis zu ihrer Gegenwart und Zukunft gebracht.

Freitag, 8. Februar 2013

"Vorher gab es nichts" - Ehrung für Claude Lanzmann

Auf der diesjährigen Berlinale wird der französische Filmemacher Claude Lanzmann für sein Lebenswerk mit dem goldenen Ehrenbären geehrt. Aus diesem Grund spielt das Festival die wichtigsten seiner Filme im Rahmen einer Werkschau. Lanzmann, 1925 als Sohn jüdischer Eltern in Paris geboren, kämpfte als Jugendlicher in der französischen Resistance und tötete bei Widerstandsaktionen deutsche Soldaten. 1948 kam er zu philosophischen Studien nach Deutschland und leitete in Berlin unter anderem ein Seminar über Antisemitismus an der neugegründeten Universität.
Ohne Zweifel ist Lanzmann mehr als ein Dokumentarfilmer, so wie sein mehrstündiger Film SHOAH sich der Einordnung in übliche Kategorien entzieht. Im Gespräch mit Rüdiger Suchsland in der Jüdischen Allgemeinen betont Lanzmann: "Ich sehe mich überhaupt nicht als Dokumentarfilmer. 'Shoah' weicht den üblichen Kategorien - fiktional oder dokumentarisch - aus. Die sind zu platt und beschreibend. Ich habe keine bereits existierende Realität abgefilmt, sondern ich habe das überhaupt erst komplett hergestellt, was man auf der Leinwand sieht. Vorher gab es nichts."
SHOAH ist tatsächlich mehr als ein Film. Die Berlinale spricht von "Monumenten gegen das Vergessen". Doch wie das Prequel SOBIBOR, 14 OCTOBRE 1943, 16 HEURES ist auch SHOAH nicht nur eine filmische Erinnerung, sondern eine Annäherung an die organisierte Gewalt, an den Tod, an die Vernichtung. Während das allgegenwärtige Gedenken in und ausserhalb des Kinos zumeist die Überwindung der Vergangenheit zum Gegenstand hat und den Blick in die Zukunft richtet, konfrontiert sich Lanzmann in SHOAH mit dem Abgrund der Verbrechen.
Doch SHOAH ist längst auch selbst zum Instrument einer erfolgreichen Verdrängung geworden. Seine Fürsprecher reduzieren Lanzmann gerne auf den Schöpfer eines Filmmonuments, hinter dem nicht nur andere Filme über den Holocaust, sondern vor allem Lanzmanns eigenes Werk verschwindet. Es ist ein seltenes Glück, dass die Ehrung für Lanzmann auch seine großartigen Filmwerke über Israel ins Kino (zurück-) bringt. Doch der Berichterstattung, auch der Berlinale selbst, sind POURQUOI ISRAEL und TSAHAL oft nur Randnotizen wert. Dabei ist SHOAH als Teil einer Trilogie der Gewalt und des Antisemitismus ohne seine Bezüge zu dem Vorgänger POURQUOI ISRAEL und dem Nachfolger TSAHAL nicht wirklich zu verstehen. Es ist kein Zufall, dass Lanzmanns lebendiges und oft erstaunlich unmittelbares, nicht selten auch komisches Porträt des jüdischen Staates von 1973 mit Widerstandsliedern beginnt, die Gerd Granach vor der Kamera sing, sowie Filmaufnahmen von der israelischen Holocaustgedenkstätte Yad Vashem. Im Zentrum des Films, der aus heutiger Sicht erstaunliche Sequenzen enthält (unter anderem über Einwanderer aus der damaligen Sowjetunion, Gespräche mit den ersten Siedlern in der Westbank etc.), steht eine Szene, in der Gegenwart und Vergangenheit urplötzlich zusammenschießen: die erstaunte Feststellung, dass es im jüdischen Staat jüdische Polizisten und jüdische Diebe gibt, und die eingekapselte Erinnerung an die eigene Erfahrung der Shoah eines von Lanzmann zufällig gefilmten Polizisten.
Ebensowenig ist es ein Zufall, dass SHOAH und TSAHAL, Lanzmanns Film über die israelischen Verteidigungskräfte aus dem Jahr 1994, aufs Engste miteinander vernäht sind. SHOAH endet bekanntlich in a-chronologischer Weise mit dem jüdischen Aufstand im Warschauer Ghetto. An diesen historischen Punkt schließt TSAHAL an und stellt den Überlebenskampf der Israelis in die Tradition jüdischen Widerstands gegen Antisemitismus und Vernichtungsdrohung.
Auch formal eröffnen TSAHAL und POURQUI ISRAEL zahlreiche Parallen zu SHOAH. Dies beginnt bei Lanzmanns Vorliebe für lange Einstellungen, die ein Gefühl von Dauer evozieren und damit körperliche Reaktionen beim Publikum hervorrufen. Das zeigt sich auch in der Struktur der Filme, die verschachtelte Erzählungen sind, in denen die Konstruktion von Situationen zum Ausdruck bringt, was die kausale Erklärungsstruktur verschleiert. Das zeigt sich vor allem aber in Lanzmanns Art mit Menschen zu sprechen, wodurch Verhaltensweisen und Gegenstände zu Auslösern von Erinnerungsprozessen und Re-enactments werden. Diese zeigen sich insbesondere auch in TSAHAL, der als Film über antisemitische Gewalt und Gegengewalt auch in eine untergründige Beziehung mit Lanzmanns Porträt von Yehuda Lerner und dem Aufstand in Sobibor tritt.

Stumme Zeugen - Historische NS-Filmdokumente

Was können Archivfilme aus der Zeit des Nationalsozialismus heute über die nationalsozialistischen Verbrechen erzählen? Für den französischen Filmemacher Claude Lanzmann handelt es sich bei solchen Aufnahmen um "Bilder ohne Vorstellungsvermögen". Sie sind stumme Zeugen, deren Zeugniswert zumeist durch die ideologische Signatur der Aufnahmen entstellt und verzerrt ist. Im folgenden Video stellt der Filmwissenschaftler Dr. Tobias Ebbrecht die Probleme und mögliche Aneignungsweisen solcher Archivbilder dar.